Der blinde Bibliothekar
Herr Meier stolpert über einen Stolperstein vor dem Amtssitz des Königs von USA. Der Stein, einst graviert mit „Gleichstellung“, ist nun glatt poliert. Frau Özgül beobachtet ihn, eine Schachtel Kreide in der Hand.
„Sie schleifen die Wörter weg“, sagt er. „Wie Grabsteine für Ungeborene.“
„Nicht weg“, korrigiert sie. „Um-ge-schrieben. Sieh hin.“
Sie deutet auf ein Schild an der Mauer: „Bevölkerungsdiversitätsoptimierung“ statt „Rassismus“. „Klimaanpassungsinnovation“ statt „Erderwärmung“.
Herr Meier schnaubt. „Wortmonster. Sie fressen die Bedeutung.“
„Genau“, erwidert Frau Özgül. „Doch jedes Monster trägt seinen Namen im Bauch. Man muss es nur aufschneiden.“
Sie zieht ihn in ein Café, wo Beamte in grauen Anzügen Akten fressen. Auf jeder Seite: geschwärzte Zeilen, rot gestempelt „ENTFERNT“.
„Der König lässt seine Diener die Sprache verdauen“, flüstert sie. „Doch Verdauung hinterlässt Spuren.“
Am nächsten Tag steht Herr Meier vor einer Bibliothek, deren Eingang vermauert ist. Ein Schild verkündet: „Wartungsarbeiten an den Gedanken“. Frau Özgül erscheint, einen Projektor auf dem Rücken.
„Sie sperren Bücher ein?“, fragt er.
„Nein“, sagt sie. „Sie mauern die Leser aus. Doch Wände werfen Schatten.“
Sie projiziert Wörter an die Backsteine: Impfung zuckt über den Mörtel, Abtreibung flackert im Ritzenlicht. Passanten bleiben stehen, deuten, tuscheln.
„Das ist verboten!“, ruft ein Uniformierter.
„Welches Wort genau?“, fragt Frau Özgül. „Sie müssen es benennen, um es zu verbieten.“
Der Mann öffnet den Mund. Schweigt.
In der Nacht träumt Herr Meier von einem blinden Bibliothekar, der Bücher nach dem Klang der Sätze sortiert. „Wörter ohne Gewicht“, murmelt der Alte, „sind unsterblich.“
Am Morgen findet er vor seiner Tür eine Kiste. Darin: Luft.
Ein Zettel klebt daran: „Die leeren Akten des Königs. Füll sie mit dem, was fehlt.“
Frau Özgül lächelt, als er sie fragt.
„Die größte Macht“, sagt sie, „liegt nicht im Streichen, sondern im Erfinden. Jede Lücke ist ein Tor.“
Und irgendwo, in einem Amtssaal, zerknüllt ein Beamter verzweifelt ein Formular. Zu viele leere Felder. Zu wenig Monsterwörter.