Die gelöschte Stimme

Herr Meier und Frau Özgül stehen vor dem Schaukasten des Arbeitsministeriums. Ein Plakat verkündet:
„Effizienzsteigerung durch vereinfachte Kommunikationsstrukturen. Ab sofort: Einzelgespräche statt Kollektivverhandlungen.“

„Der König von USA hat das Wir gestrichen“, sagt Herr Meier. „Nur noch Ich darf sprechen – in Behörden, die er für sein Reich hält.“

Frau Özgül deutet auf die Liste der betroffenen Ämter: Grenzschutz, Justiz, Energie. „Wo Sicherheit befohlen wird, ist Solidarität ein Verbrechen.“

Sie betreten das Foyer. Ein Wachmann überwacht Arbeiter, die Türen mit Schildern versehen: „Verhandlungssäle bis auf Weiteres geschlossen.“
„Warum lässt man sie die Räume absperren?“, fragt Herr Meier. „Die Gewerkschaften klagen doch.“

„Weil Schlösser billiger sind als Argumente“, erwidert sie.

Am nächsten Tag treffen sie sich vor dem Gericht, wo Anwälte Aktenkarren schieben. „Das Gesetz von 1978“, ruft einer, „gibt dem Präsidenten das Recht, nationale Sicherheit zu definieren. Ein dehnbarer Begriff.“

„Zu dehnbar“, kontert Frau Özgül. „Er spannt ihn über jeden Mund, der Nein sagt.“

Abends sitzen sie in Herrn Meiers Küche. Er breitet eine Kopie der Exekutivanordnung aus – Paragraph 3b ist dick umrandet: 
„… jede kollektive Interessenvertretung in Sicherheitsbehörden untergräbt die Handlungsfähigkeit des Staates …“

„Handlungsfähigkeit“, liest Frau Özgül laut. „Ein Code für Gehorsam.“ Sie nimmt einen Rotstift, fügt zwischen den Zeilen hinzu:
„Wer Einigkeit verbietet, fürchtet ihre Macht.“

Am folgenden Morgen hängt an der Tür des Arbeitsministeriums ein neues Plakat:
 „TSA-Mitarbeiter erhalten Auszeichnung für individuellen Einsatz!“
 Darunter: Fotos von leeren Uniformen, ohne Gesichter.

„Sie feiern Geister“, spottet Herr Meier.


„Nein“. Sie hoffen, dass die Lebenden die Uniformen füllen – und schweigen.“

Als sie gehen, sieht Herr Meier, wie eine Reinigungskraft die Glasscheibe des Schaukastes poliert. Im Eimerwasser schwimmen Papierschnipsel: Streik, Tarif, Kollektiv.

„Auch Wörter hinterlassen Schmutz“, flüstert Frau Özgül.

Auf dem Heimweg passieren sie ein besetztes Gewerkschaftsbüro. Durch die zerbrochene Scheibe hören sie ein Radio: 
„… die Klage wurde abgewiesen. Der Richter bestätigt die Befugnis des Präsidenten …“

Herr Meier tritt einen Stein gegen die Bordsteinkante. „Das Spiel ist verloren.“


„Nein, die Regeln wurden geändert. Wir spielen trotzdem weiter.“

Sie zieht Kreide aus der Tasche, schreibt auf den Asphalt:
 „VERHANDLUNG“
 – Ein Regenbogen aus Buchstaben, quer über den Gehweg.

Ein Polizist nähert sich. „Das ist unerlaubte Schrift.“
„Welches Wort genau?“, fragt sie. „Sie müssen es nennen, um es zu löschen.“

Der Mann starrt auf das V, das E, das R – sagt nichts. Geht weiter.

In der Nacht wäscht der Regen die Kreide fort. Doch am Morgen findet Herr Meier an der U-Bahn-Station ein Graffiti:
„Kollektivität ist kein Verbrechen. Siehe: Geschichte.“

Frau Özgül lächelt. „Siehst du? Man löscht eine Stimme, und zehn andere lernen, laut zu sein.“

Und irgendwo, in einem abgeschlossenen Verhandlungssaal, klappert das Ventilatorgeräusch wie Beifall.