Das Rattern von Zügen
Herr Meier findet Frau Özgül im Gemeinschaftsgarten, wo sie eine Kerze neben einen verdorrten Rosenstock stellt.
„Sie ist tot“, sagt sie, ohne ihn anzusehen. „Margot. Eine der Letzten, die noch mit beiden Augen ins Dunkel sahen.“
Er zögert. „Wer war sie schon? Eine alte Frau, die Reden hielt.“
Frau Özgül dreht sich abrupt um. „Nein. Sie war ein Spiegel. Zeigte uns, was wir verloren haben – und was wir wieder verlieren könnten.“ Sie greift in ihre Tasche, zieht ein vergilbtes Foto hervor: Margot, 103-jährig, mit Augen wie Stahl und Händen, die Luft zu Worten formten.
„Seid Menschen“, liest Herr Meier vom Bildunterschrift. „Naiv.“
„Naiv?“, erwidert Frau Özgül. „1945 überlebte sie die SS, 2023 überlebte sie den Hass auf Juden in Berliner Straßen. Wer von uns ist naiv?“
Am Kiosk hängt ein Plakat der BlauBraunen: „Heimat zuerst!“ Frau Özgül reißt es ab, klebt stattdessen Margots Zitat darüber: „Heimat ist, wo man mich nicht vergast.“
Ein Passant murrt: „Können wir nicht endlich die Vergangenheit ruhen lassen?“
„Ruhen?“, zischt sie. „Die BlauBraunen graben sie jeden Tag aus. Mit Schaufeln aus Lügen.“ Sie zeigt auf ein Wahlkampfauto, das „Remigration!“ brüllt. „Hörst du das? Das ist kein Slogan. Das ist das Rattern von Zügen – rückwärts.“
Abends sitzen sie in Herrn Meiers Küche. Er blättert in Margots Memoiren: „Es fing im Kleinen an …“
„Wie jetzt“, sagt Frau Özgül. „Wenn Lehrer Auschwitz im Unterricht nur noch als ‚emotionales Thema‘ behandeln. Wenn die Schwarzen mit den BlauBraunen über ‚Mitte‘ flüstern.“
Plötzlich schlägt sie das Fenster auf. „Hörst du sie?“
„Wen?“
„Die Schreie. Von damals. Von heute. Margot sagte: Sie werden lauter, wenn wir schweigen.“
Seid Menschen
Am nächsten Tag stehen sie vor einer zerstörten Gedenktafel für Holocaust-Opfer.
„Margots letzte Rede hier“, sagt Frau Özgül tonlos. „Sie weinte, als ein Kind fragte: Warum hassen sie uns wieder?“
Herr Meier kickt eine Scherbe gegen die Wand. „Was können wir tun? Sie ist tot. Die Braunen lebendig.“
Frau Özgül packt seinen Arm. „Sie hinterließ keine Blumen, Herr Meier. Sie hinterließ Waffen: Worte. Seid Menschen. Ein Befehl. Eine Anklage. Ein Test.“
Sie geht zum Fluss, wirft Margots Buch hinein. „Was tust du?!“, schreit er.
„Siehst du? Es sinkt nicht.“ Tatsächlich treibt es, aufgeschlagen bei „Wehrt euch, bevor es zu spät ist“, stromabwärts – Richtung Rathaus.
In der Nacht träumt Herr Meier von Margot. Sie reicht ihm einen Schlüssel. „Für den Käfig, den ihr bauen müsst. Nicht für Menschen – für die Ungeheuer.“
Am Morgen findet er Frau Özgül beim Rathaus, wie sie mit Kreide Margots letzte Rede auf den Asphalt schreibt. Ein BlauBrauner tritt dazwischen: „Das ist Geschichtsklitterung!“
„Nein“, sagt sie. „Das ist Geschichtsunterricht.“ Sie wirft ihm das Kreidestück zu. „Schreib deine Version daneben. Mal sehen, welches länger hält.“
Der Mann erstarrt. Geht.
„Verstehst du jetzt?“, fragt Frau Özgül. „Margot war kein Denkmal. Sie war ein Stolperstein – in unseren bequemen Köpfen.“
Herr Meier nimmt die Kreide. Schreibt daneben: „Wer schweigt, gräbt.“
Als Regen einsetzt, wäscht er die Buchstaben fort. Doch im Rinnstein glitzert etwas: Ein Schlüssel. Rostig. Scharfkantig.
Frau Özgül lächelt. „Beginnt immer im Kleinen, sagte sie. Also fangen wir klein an. Heute. Hier.“