Die blauen Löcher

Herr Meier und Frau Özgül sitzen in einer Stadtbibliothek, umgeben von Büchern über den 8. Mai 1945. Auf dem Tisch liegt ein Flyer der Blauen: „Freiheit statt Schuldkult!“.

„Sie nähen Löcher in die Geschichte“, sagt Frau Özgül. „Mit blauem Garn. Bald fällt alles auseinander.“ Ein junger Bibliothekar rückt ein Schild zurecht: „80 Jahre Befreiung – Ausstellung.“ Darunter fehlt jedes Buch zur Roten Armee. Stattdessen: „Deutsche Opfer des Bombenkriegs.“

„Siehst du?“, zischt sie. „Die Blauen tünchen die Wände. Aus Befreiern werden Besatzer, aus Opfern Täter.“ Herr Meier blättert in einem rosaroten Faltblatt: „Dialoge gegen Rechts!“ „Dialoge?“, spottet Frau Özgül. „Als die Rote Armee Berlin erreichte, gab es keine Dialoge. Da brannten Panzer, nicht Kerzen.“

Sie klappt ein Fotoalbum auf – zerstörte Städte, befreite Lager. „Die Rosaroten behandeln Faschismus wie ein Streitgespräch. Doch man diskutiert nicht mit dem Tsunami. Man baut Dämme.“ Vor dem Rathaus inszenieren die Blau-Braunen einen „Volksdialog“. Ein Mann in hellblauem Anzug spricht: „Wir brauchen eine erinnerungspolitische Wende!*

„Wende zurück“, ruft Frau Özgül. „Zurück zu euren Kellern, wo 1945 die NS-Akten schmoren!“

Security packt sie am Arm. Herr Meier zieht sie weg. „Warum provozieren? Die hören doch nicht.“ „Aber die anderen.“ Sie deutet auf Schüler, die filmen. „Damit sie fragen: Warum zuckt der Mann in Blau, wenn man Auschwitz sagt?“

Abends finden sie eine Gedenktafel im Park, übermalt mit blauer Sprühfarbe: „8. Mai – Tag der Lüge!“ Frau Özgül holt Terpentin. „Die Farbe der Blauen ist dünn. Darunter bleibt immer die braune Schicht.“ Sie schrubbt, bis „Rote Armee“ wieder lesbar ist. Ein Rentner bleibt stehen. „Lassen Sie das! Die wollen doch nur Frieden.“

„Frieden?“, erwidert sie. „1933 wollten sie auch ‚Frieden‘. Bis die Synagogen brannten.“ Am nächsten Tag organisieren die Rosaroten eine Podiumsdiskussion: „Wie erinnern wir richtig? Frau Özgül schleppt einen Koffer voller Frontzeitungen von 1944 an. „Warum?“, fragt Herr Meier.

„Vergleiche.“ Sie legt eine Blaue-Broschüre daneben: „Migration bedroht unser Gedächtnis!“ vs. NS- „Juden vergiften das Volksbewusstsein!“ „Fast gleich“, murmelt er. „Die Druckmaschine ist dieselbe. Nur das Papier dünner.“ Als der Rosarote Redner „Versöhnung“ predigt, steht sie auf: „Versöhnung gab es 1945 nur durch Sieg. Nicht durch Handschläge mit Henkern.“

Ein Student erhebt sich und wirft ihr vor: „Sie spalten!“ „Nein“, sagt sie. „Ich zeige die Naht. Wo Blau-Braun auf eure Kompromisse trifft, reißt es auf.“

Draußen hängt ein Plakat der Schwarzen: „Sicherheit durch Stärke!“ Frau Özgül klebt ein historisches Bild drüber: Wehrmachtssoldaten, die Kiew beschießen. „Das war auch Stärke“, ruft sie. „Fragt die Toten, wohin sie führt!“

In der Nacht träumt Herr Meier von einem Ozean. Blaue Wellen schwappen über ein Ufer aus Knochen. Als er erwacht, liegt ein blauer Stein auf seinem Fensterbrett – hart, kalt, mit eingraviertem Pfeil.

„Siehst du?“, sagt Frau Özgül am Frühstückstisch. „Sie polieren die Symbole. Aus Hakenkreuz werden Pfeile. Aus Führer wird Vaterland. Doch das Gift bleibt.“ Sie fahren zum sowjetischen Friedhof. Zwischen den Gräbern hat jemand blaue Fähnchen gesetzt: „Deutsche Tote verdienen Respekt!“ Frau Özgül reißt sie aus. „Respekt? Hier liegen die, die eure Großväter ermordeten. Lernt endlich zuzuhören – die Steine schreien es.“

Und irgendwo, in einem Archiv, färbt sich Tinte rot. Langsam, unaufhaltsam, Wort um Wort.